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Gutachtenstil

Der Gutachtenstil

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Tobias Escherich
Aktualisiert am 
8.12.2023
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Das Wichtigste in Kürze:

  • Der Gutachtenstil stellt den Lösungsalgorithmus dar, mit dem juristische Probleme gelöst werden.
  • Der Gutachtenstil besteht aus vier Schritten, dem Obersatz, der Definition, der Subsumtion und dem Ergebnis.
  • Studenten sollten neben dem Gutachtenstil auch den verkürzten Gutachtenstil und den Feststellungsstil beherrschen.

Verkürzter Gutachtenstil

Der verkürzte Gutachtenstil stellt eine Abwandlung des Gutachtenstils dar, mit dem in der Klausur weniger problematische Fragen beantwortet werden können. Mehr dazu in unserem Artikel zum verkürzten Gutachtenstil.

Was ist der Gutachtenstil?

Der Gutachtenstil ist der Lösungsalgorithmus, mit dem juristische Probleme gelöst werden. Beim Gutachtenstil wird zuerst eine Frage aufgeworfen, anschließend wird der Maßstab zur Problemlösung herausgearbeitet. Die aufgeworfene Frage wird dann anhand des Maßstabes beantwortet, sodass am Ende das Ergebnis festgestellt werden kann.

Zweck und Bedeutung des Gutachtenstils

Der Gutachtenstil stellt ein Mittel dar, mit dem Antworten auf juristische Frage entwickelt werden. Deswegen könnte man den Gutachtenstil auch als Lösungsalgorithmus für juristische Probleme bezeichnen. In juristischen Klausuren besteht die Aufgabe der Studierenden darin, juristische Probleme auf diese Art zu lösen. Darüber hinaus ist es auch im späteren Berufsleben in vielen juristischen Berufen von Bedeutung, sich mit juristischen Problemen auseinanderzusetzen. Um im Studium und später im Berufsleben als Jurist Erfolg zu haben, ist es deshalb wichtig, diesen „Lösungsalgorithmus“ sicher zu beherrschen.

Schritte des Gutachtenstils

Die Prüfung im Gutachtenstil besteht aus vier Schritten:

  • Obersatz: Stellt die Frage dar, welche aufgeworfen wird.
  • Definition: Stellt mit einer abstrakten Begriffsbestimmung die Anforderungen auf, welche im konkreten Fall vorliegen müssen, damit die Ausgangsfrage positiv beantwortet werden kann.
  • Subsumtion: Prüft, ob die zuvor in der Definition aufgestellten Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen.
  • Ergebnis: Stellt das Ergebnis auf die aufgeworfene Frage dar.

Was ist der Obersatz im Gutachtenstil?

Der Obersatz stellt die Hypothese dar, welche in den nächsten Schritten geprüft wird.
Der Obersatz stellt also den Einstieg in die Prüfung eines einzelnen Tatbestandsmerkmals dar. Der Einstieg erfolgt dadurch, dass die zu prüfende Frage aufgeworfen wird. Wichtig bei Formulieren eines Obersatzes ist, dass der Obersatz nie als Frage formuliert wird. Stattdessen wird der Konjunktiv verwendet. Wird etwa ein Brief verschickt, bei dem sich die Frage stellt, ob der Brief ein Angebot, dann wäre der Obersatz für den Prüfungspunkt „Angebot“ „Der Brief könnte ein Angebot iSd. § 145 BGB darstellen.“ Beim Obersatz der Einzelmerkmalsprüfung ist es insbesondere wichtig, dass der Obersatz klar formuliert wird, sodass es für den Leser ersichtlich ist, welche Voraussetzung geprüft wird.

Beispiele

a) Obersatz Zivilrecht

  • Ein Grundstück ist mit Altlasten (z.B. Gift) verseucht, worüber der Verkäufer den Käufer nicht aufgeklärt hat, sodass eine Anfechtung des Kaufvertrages wegen einer arglistigen Täuschung, § 123 I 1 Alt. 1 BGB, in Betracht kommt.
  • Obersatz für den Prüfungspunkt „Täuschung“: Indem der Verkäufer den Käufer nicht über die Verseuchung durch Altlasten informiert hat, könnte eine Täuschung vorliegen.

b) Obersatz Strafrecht

  • Zwei Freunde haben einen Streit, der sich aufheizt und dazu führt, dass A den B gegen eine Wand stößt. Es stellt sich somit unter anderem die Frage, ob eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 I Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB vorliegt, indem die Wand ein gefährliches Werkzeug darstellt.
  • Obersatz für den Prüfungspunkt „anderes gefährliches Werkzeug“, § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB: Der Stoß gegen die Wand könnte eine Körperverletzung mit einem anderen gefährlichen Werkzeug darstellen.

Welche Bedeutung hat die Definition?

Die Definition stellt den abstrakten Maßstab dar, anhand dessen die Beantwortung des Obersatzes herausgearbeitet wird. Um eine Klausur zufriedenstellend zu bearbeiten, ist es wichtig, korrekte Definitionen zu verwenden. Grundsätzlich müsste man als Student also jede Definition beherrschen. Es ist allerdings unmöglich, alle Definitionen auswendig zu lernen. Um eure Lernzeit zu reduzieren, würden wir Euch deshalb dazu raten, dass Ihr solche Definitionen auswendig lernt, die häufig vorkommen (sog. „Kernbereichsdefinitionen“), und bezüglich der anderen Definitionen lernt, diese selbstständig in der Klausur zu entwickeln.  

„Kernbereichsdefinitionen”

„Kernbereichsdefinitionen“ sind solche Definitionen, die von herausragender Bedeutung sind und deren Kenntnis erwartet wird. Beispiele hierfür sind die Urkundendefinition oder die Definition der Wegnahme im Strafrecht oder der Mangelbegriff im Kaufrecht. Kernbereichsdefinitionen erkennt man daran, dass diese sehr häufig angewendet werden müssen. Somit sind all solche Definitionen Kernbereichsdefinitionen, die zu den Grundlagen der jeweiligen Fächer gehören (z.B. der allgemeine Teil im Strafrecht, die Definitionen bei den Vermögensdelikten im Strafrecht, das Kauf-, Werk- und Mietrecht im Zivilrecht usw.).  

Definitionen selbstständig entwickeln

Bei allen anderen Definitionen würden wir Euch raten, diese nicht auswendig zu lernen. Denn dies würde sehr viele Ressourcen binden, ohne einen entsprechenden Mehrwert zu generieren. Diese Definitionen müssen nur selten in Prüfungen angewendet werden, sodass nicht vorausgesetzt wird, den genauen Wortlaut zu beherrschen. Stattdessen kann man solche Definitionen mit der eigenen Lebenserfahrung und den Informationen des Sachverhalts selbstständig herleiten.  

Wenn es etwa um die Frage geht, ob ein Wasserfahrzeug iSd. § 306 Abs. 1 Nr. 4 Var. 4 StGB vorliegt, dann kann man sich eine brauchbare Definition auch dadurch herleiten, dass man so präzise wie möglich versucht, dass eigene Bild, welches man von Wasserfahrzeugen hat, abstrakt zu beschreiben. Außerdem kann man die Informationen, welche der Sachverhalt beinhaltet, gut nutzen, um abstrakte Begriffe für diese Informationen zu finden, welche man in der Definition verwendet. Durch dieses zweischneidige Vorgehen schafft ihr es, effizient zu lernen, indem Ihr Schwerpunkte dort setzt, wo es erforderlich ist, ohne dass Ihr euch überarbeitet.


Beispiel:

  • Wie bildet man die Definition von „Wasserfahrzeug“ iSd § 306 Abs. 1 Nr. 4 Var. 4 StGB ohne genauere Kenntnisse zu haben?
  • Für die Definition sind 3 Aspekte wichtig. Zwei zentrale Merkmale kann man aus dem Wort selbst ableiten und das dritte Merkmal kann man aus der Systematik des Gesetzes ableiten. Erstens muss es sich um ein Fahrzeug handeln, wie sich aus dem Wort selbst ergibt, also ein Fortbewegungsmittel, sodass der Gegenstand zur Fortbewegung geeignet und bestimmt sein muss. Zweitens muss diese Fortbewegung auf dem Wasser erfolgen. Außerdem kann noch aus § 306 Abs. 1 Nr. 4 Var. 1 StGB geschlossen werden, dass die Antriebsart ohne Bedeutung ist, indem keine Beschränkung auf „Wasserkraftfahrzeuge“ erfolgt, wie es in der ersten Variante der Fall ist. Ein Wasserfahrzeug ist somit ein Gegenstand, der zur Fortbewegung auf dem Wasser geeignet und bestimmt ist unabhängig von der Antriebsform.

Welche Bedeutung hat die Subsumtion?

Die Subsumtion dient der Verknüpfung des abstrakten Maßstabes mit dem Einzelfall. Dieser Prüfungsschritt ist deshalb von besonderer Bedeutung. An dieser Stelle ist die Eigenleistung des Juristen gefragt. Das Aufstellen einer abstrakten Definition ist zwar eine unerlässliche Voraussetzung, stellt für sich genommen jedoch noch keine besondere Leistung dar. Die auch für die Bewertung von Klausuren essenzielle Leistung liegt darin, dass man prüft, ob die Voraussetzungen der Definition in dem konkreten Fall vorliegen.

Beim Subsumieren in der Klausur ist es besonders wichtig, dass man alle Informationen des Sachverhaltes auswertet, denn nur wenn alle relevanten Informationen ausgewertet wurden, liegt eine umfassende Prüfung vor.  

Eine besondere Herausforderung liegt in der Subsumtion unter unbestimmte Rechtsbegriffe (z.B. das Vorliegen einer Gefahr im Polizeirecht). Im Beitrag unbestimmte Rechtsbegriffe haben wir Euch hierzu einen extra Beitrag geschrieben, wo wir Euch umfangreich darstellen, wie man in der Klausur mit solchen Problemen umgeht.

Ergebnis

Im Ergebnissatz stellt ihr das Ergebnis Eurer Subsumtion unter die Definition dar. Dies mag Euch, gerade zu Beginn eurer Ausbildung, zwar wie eine Banalität vorkommen, trotzdem ist es wichtig, immer kurz das Ergebnis darzustellen. Dadurch zeigt Ihr einerseits, dass Ihr sorgfältig arbeitet und andererseits erleichtert Ihr es auch dem Korrektor der Klausur euren Ausführungen zu folgen, sodass Eure Klausur deutlich strukturierter wird.

Die Gesamtprüfung im Gutachtenstil

In einer juristischen Klausur erfolgt nicht nur die Prüfung eines einzelnen Merkmals im Gutachtenstil, sondern das gesamte Gutachten selbst ist im Gutachtenstil aufgebaut. Auch das gesamte Gutachten selbst erfolgt in einer vierschrittigen Prüfung.

Obersatz

Auch im Rahmen der Gesamtprüfung stellt der Obersatz die Ausgangshypothese dar, die in den nächsten Schritten überprüft wird. Der Inhalt eines solchen Obersatzes ist in den drei Rechtsgebieten unterschiedlich. Im Zivilrecht ist der Obersatz immer auf die Rechtsfolge gerichtet, das bedeutet, dass der Obersatz den Anspruchsteller, Anspruchsgegner, das Anspruchsziel und die Anspruchsgrundlage enthalten muss.  

Um diese Anforderungen stets im Kopf zu behalten, bietet sich folgender Merksatz an: „Wer will was von wem woraus?“.

Im Strafrecht muss der Obersatz die Person, das Tatverhalten (bzw. das Unterlassen) und den Straftatbestand enthalten.

Im Öffentlichen Recht ist normalerweise zu prüfen, ob eine Klage oder ein Antrag Aussicht auf Erfolg hat.  

Definition & Subsumtion

Die Definition und Subsumtion erfolgt im Gesamtgutachten durch die Prüfung der einzelnen Anspruchsvoraussetzungen oder Tatbestandsmerkmale. Die Definition enthält somit die einzelnen Tatbestandsmerkmale die erfüllt sein müssen, damit ein Anspruch besteht bzw. eine Strafbarkeit vorliegt. Die „Definition“ wird allerdings aus Effizienzgründen häufig weggelassen. Stattdessen erfolgt direkt die Subsumtion, also die Prüfung der Tatbestandsmerkmale bzw. Anspruchsvoraussetzungen.

Beispiel

Wenn man einen Nacherfüllungsanspruch, §§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 BGB, prüft, müsste eigentlich nach dem Obersatz die Definition folgen. Die Definition wäre, dass ein Nacherfüllungsanspruch vorliegt, wenn ein Kaufvertrag und Sachmangel bei Gefahrübergang bestehen, der Anspruch nicht ausgeschlossen ist und der Anspruch fällig, wirksam und durchsetzbar ist. Anschließend müssten in der Subsumtion geprüft werden, ob diese Voraussetzungen vorliegen. So müsste etwa das Vorliegen eines Kaufvertrages geprüft werden. Da auch dieser Prüfungspunkt im Gutachtenstil erfolgt, also mit dem Obersatz, dass ein Kaufvertrag vorliegt, würden viele Dopplungen entstehen, indem die Definition zum Nacherfüllungsanspruch den Obersätzen zu den einzelnen Anspruchsvoraussetzungen entspricht. Deshalb wird die Definition zum Gesamtanspruch normalerweise weggelassen.

Beispiel Gutachtenstil Definition und Subsumtion

Ergebnis

Das Ergebnis stellt auch wiederum die Antwort auf den Obersatz, also die Ausgangshypothese dar.

Wichtig: Übersichtlichkeit

Eine Klausurlösung besteht somit aus einer Verschachtelung von vielen Prüfungen im Gutachtenstil. Dies führt allerdings dazu, dass der Korrektor schnell den Überblick verliert, an welchem Punkt der Prüfung man sich gerade befindet. Um selbst den Überblick nicht zu verlieren und auch dem Korrektor zu ermöglichen, die Struktur der Lösung zu erkennen, ist es von hoher Relevanz besonders strukturiert vorzugehen. Dies kann man in der Klausur gut dadurch umsetzen, dass man Zwischenüberschriften macht, Gliederungsebenen verwendet und Absätze bewusst setzt, um den Text zu strukturieren.

Häufig gestellte Fragen

Wie funktioniert der Gutachtenstil?
Die Prüfung des Gutachtenstils erfolgt in vier Schritten. Der Obersatz stellt die Ausgangsfrage dar. Die Definition ist der Prüfungsmaßstab für die Beantwortung des Obersatzes. In der Subsumtion wird geprüft, ob die Voraussetzungen der Definition erfüllt werden. Im Anschluss daran wird das Ergebnis mitgeteilt.
Welche Wörter sollte man im Gutachtenstil nicht verwenden?
Im Gutachtenstil sollte solche Wörter vermieden werden, die darauf hindeuten, dass im Urteilsstil geprüft wurden. Zu den "verbotenen Wörtern" gehören beispielsweise "da" oder "weil".
Was ist der Obersatz im Gutachtenstil?
Der Obersatz im Gutachtenstil stellt die Ausgangshypothese dar, die in der folgenden Prüfung beantwortet wird.
Wie schreibt man im Urteilsstil?
Im Urteilsstil wird das Ergebnis vorab mitgeteilt. Anschließend wird das Ergebnis begründet, wofür zuerst die Definition mitgeteilt wird und anschließend wird unter die Definition subsumiert.