Jura-Studium
Beurteilungsspielraum

Prüfung des Beurteilungsspielraums

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Tobias Escherich
Aktualisiert am 
5.1.2024
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Das Wichtigste in Kürze:

  • Der Verwaltung steht nur ausnahmsweise ein Beurteilungsspielraum zu.
  • Der Verwaltung steht nur dann ein Beurteilungsspielraum zu, wenn eine effektive Kontrolle durch die Gerichte ausscheidet. Bei einer beamtenrechtlichen Beurteilung etwa fehlt dem Gericht die jahrelange Zusammenarbeit, um die Beurteilung zu kontrollieren.
  • Wenn der Verwaltung ein Beurteilungsspielraum zusteht, wird die Behördenentscheidung nur dahingehend kontrolliert, ob ein Beurteilungsnichtgebrauch, -fehlgebrauch, -defizit oder -missbrauch vorliegt.

Was sind unbestimmte Rechtsbegriffe?

Im öffentlichen Recht unterliegen unbestimmte Rechtsbegriffe (z.B. „Gefahr“ im Polizeirecht oder „Zuverlässigkeit“ i.S.d. § 35 GewO) Wertungen und Prognosen, sodass in solchen Fällen ein unbestimmter Rechtsbegriff vorliegt. Denn für die Frage, ob in einer Situation eine Gefahr vorliegt, muss abgeschätzt werden, wie sich die Situation weiterentwickelt.

Was bedeutet „Beurteilungsspielraum“?

Behörden haben deutlich mehr Personal und Sachkunde als Gerichten. Deshalb wird teilweise vertreten, dass die Behörden bei der Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen grundsätzlich einen gerichtlich nicht kontrollierbaren Beurteilungsspielraum haben. Damit wäre das Gericht grundsätzlich an die Bewertung der Behörde gebunden. Indem ein solcher Beurteilungsspielraum allerdings der Rechtsweggarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG widerspricht, sind Gerichte grundsätzlich ermächtigt, jede Entscheidung der Behörden zu überprüfen, ohne dass der Behörde ein Beurteilungsspielraum zusteht.

Es gibt jedoch Situationen, in denen ein Gericht nachträglich nicht sinnvoll kontrollieren kann, ob die Tatbestandsvoraussetzungen vorlagen oder nicht. Beispielsweise kann ein Gericht nicht kontrollieren, ob ein Abiturient in einer mündlichen Prüfung eine bessere oder schlechtere Note bekommen sollte. Denn es ist nicht möglich, die Zeit zurückzudrehen und vor Gericht eine neue Prüfung abzunehmen, mit dem Kenntnisstand des Abiturienten, als die Abiturprüfung stattgefunden hat.  

Es gibt deshalb ausnahmsweise Situationen, in denen den Behörden ein Beurteilungsspielraum zugestanden wird, sodass das Gericht nur eingeschränkt überprüfen kann, ob die Tatbestandsvoraussetzungen vorlagen oder nicht.  

Wann steht den Behörden ein Beurteilungsspielraum zu?

Wenn ein Beurteilungsspielraum vorliegt, wird die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt. Deshalb wird der Verwaltung ein Beurteilungsspielraum nur in Ausnahmefällen zugestanden. Außerdem erfordert die Einschränkung der Rechtsweggarantie eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung.  

(Klausurrelevante) Beispiele, in denen der Behörde ein Beurteilungsspielraum zusteht:

  • Prüfungen und prüfungsähnliche Entscheidungen.
  • Beamtenrechtliche und ähnliche Beurteilungen.
  • Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen bei besonders komplexen Entscheidungen im Umweltrecht & Wirtschaftsverwaltungsrecht.

Prüfungen und prüfungsähnliche Entscheidungen

Bei Prüfungen ist für die Noten nicht nur die Leistung des Prüflings, sondern auch der Vergleich zu den anderen Prüfungsteilnehmern von Bedeutung. Wenn ein Gericht nachträglich eine Prüfungsleistung überprüfen soll, kann es einen solchen relativen Vergleich nicht vornehmen. Würde das Gericht also eine Bewertung vornehmen, wäre die Chancengleichheit der Prüflinge beeinträchtigt, indem die Prüflinge unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben unterlägen. Deswegen wird den Behörden bei Prüfungen und prüfungsähnlichen Situationen ein gerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum zugestanden, dessen Rechtfertigung aus der Chancengleichheit der Prüflinge (Art. 3 Abs. 1 GG) folgt.

Der Beurteilungsspielraum erfasst allerdings nicht die fachwissenschaftliche Richtigkeitskontrolle. Denn für die Bewertung, ob etwas richtig oder falsch ist, kommt es nicht auf den relativen Vergleich zu den anderen Prüflingen an. Wenn also in der Fachliteratur etwas als richtig angesehen wird, muss dies vom Prüfer als vertretbar hingenommen werden und darf nicht als falsch gewertet werden. Insoweit besteht also kein Beurteilungsspielraum. Somit besteht der Beurteilungsspielraum bei Prüfungen und prüfungsähnlichen Situationen nur bezüglich der prüfungsspezifischen Wertungen, nicht aber bezüglich der fachwissenschaftlichen Richtigkeitskontrolle.

Beamtenrechtliche und ähnliche Beurteilungen

Die zweite Fallgruppe, in der den Behörden ein Beurteilungsspielraum zugestanden wird, sind beamtenrechtliche und ähnliche Beurteilungen. Beamte erhalten regelmäßig Beurteilungen über ihre Leistungen. Für eine solche Beurteilung sind die Erkenntnisse und Wertungen aus der täglichen Arbeit von hoher Bedeutung. Diese Erkenntnisse lassen sich jedoch nachträglich nicht vor Gericht reproduzieren. Das Gericht kann – wenn überhaupt – nur einzelne Handlungen bewerten, es ist aber unmöglich, sich ein umfassendes Bild der einzelnen Leistungen des Beamten zu machen. Ein so umfassendes Bild kann sich nur der direkte Vorgesetzte machen, welcher täglich die Leistungen und das Verhalten sieht und es deshalb am besten bewerten kann.

Deswegen wird den Behörden bei solchen Entscheidungen ein gerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum zugestanden. Wichtig ist allerdings, dass auch dieser Beurteilungsspielraum nicht die fachwissenschaftliche Richtigkeitskontrolle erfasst, da die Rechtfertigung der Einschränkung des Art. 19 Abs. 4 GG nur für Wertungsfragen besteht.

Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen

Eine weitere Fallgruppe für das Bestehen eines Beurteilungsspielraums sind Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen bei besonders komplexen Entscheidungen im Umweltrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht. Bei solchen Entscheidungen muss ein Wahrscheinlichkeitsurteil ex ante gefällt werden, wobei die Fortentwicklung unklar ist. Wenn eine solche Entscheidung besonders komplex ist, dann kann ein Gericht auch nicht mehr machen, als eine eigene Prognose vorzunehmen. Insoweit wäre der Rechtsschutz also wenig effektiv, da die Behörde mit ihrer hohen Fachkompetenz eine fundiertere Prognoseentscheidung treffen kann als das Gericht. Deshalb wird Behörden in solchen Situationen ein Beurteilungsspielraum zugestanden. Wichtig ist allerdings, dass ein solcher Beurteilungsspielraum nur ganz ausnahmsweise vorliegt, also auf Extremfälle beschränkt ist. Ein Beispiel für die Annahme eines Beurteilungsspielraums ist die Frage, ob die erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung eines Atomkraftwerks getroffen ist, vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG.

Gerichtliche Überprüfung bei Vorliegen eines Beurteilungsspielraums

Wenn ein Beurteilungsspielraum vorliegt, führt dies allerdings nicht dazu, dass Gerichte die Entscheidungen der Behörden überhaupt nicht mehr kontrollieren. Der Beurteilungsspielraum führt nur dazu, dass die Wertungsentscheidung der Behörde nicht überprüft werden kann. Somit kann die Behörde nicht machen, was sie möchte. Vielmehr muss die Behörde weiter Grenzen beachten, deren Einhaltung durch die Gerichte überprüft wird.  

Welche Beurteilungsfehler gibt es?

Folgende Beurteilungsfehler kommen bei Vorliegen eines Beurteilungsspielraums in Betracht:

  • Beurteilungsnichtgebrauch
  • Beurteilungsfehlgebrauch
  • Beurteilungsmissbrauch
  • Beurteilungsüberschreitung

Beurteilungsnichtgebrauch

Der erste Fehler, auf den Gerichte die behördliche Entscheidung überprüfen können, ist der Beurteilungsnichtgebrauch. Ein Beurteilungsnichtgebrauch liegt vor, wenn die Behörde überhaupt keine wertende Beurteilung vorgenommen hat. Wenn die Behörde schlicht von einem bestimmten Sachverhalt ausgeht, hat sie überhaupt keine eigene Entscheidung getroffen, sodass die Beurteilungsentscheidung rechtsfehlerhaft ist. Weil dieser Fehler nicht den Inhalt der Wertungsentscheidung der Behörde betrifft, sondern die vorgelagerte Frage, ob die Behörde überhaupt eine Wertungsentscheidung getroffen hat, kann der Fehler auch durch Gerichte kontrolliert werden.

Beurteilungsdefizit

Ein Beurteilungsdefizit liegt vor, wenn die Behörde von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgeht. Wenn die Behörde ihre Wertungsentscheidung auf Basis von unzutreffenden Informationen trifft, dann liegen so erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Behördenentscheidung vor, dass nicht mehr von einer rechtsfehlerfreien Behördenentscheidung ausgegangen werden kann. Auch ein solcher Fehler ist der Wertungsentscheidung der Behörde vorgeschaltet und betrifft nicht den Inhalt der Beurteilung, sodass insoweit eine gerichtliche Kontrolle möglich ist.

Beispiel: Bei der Prüfung, ob die erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung eines Atomkraftwerks getroffen ist, § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG, schaut sich die Behörde versehentlich das falsche Atomkraftwerk an.  

Beurteilungsmissbrauch

Hintergrund des Beurteilungsspielraums ist, dass die Behörde über eine höhere Sachkompetenz bzw. einen Wissensschatz verfügt, wodurch die Behörde eine fundiertere Beurteilungsentscheidung treffen kann als ein Gericht. Der Beurteilungsspielraum setzt somit voraus, dass die Behörde eine Sachentscheidung trifft. Wenn die Behörde hiervon abweicht und bei der Entscheidung sachfremde Erwägungen berücksichtigt, dann trifft die Behörde keine Entscheidung auf Basis der Sachkompetenz bzw. des überlegenen Wissens, sodass die Grundlage des Beurteilungsspielraums entfällt. Deshalb liegt in einem solchen Fall eine rechtsfehlerhafte Beurteilung der Behörde vor, welche aufgrund der fehlenden Sachentscheidung auch gerichtlich kontrollierbar ist.  

Beurteilungsüberschreitung

Inhaltlich können Gerichte die Entscheidung der Behörde – wie dargestellt – grundsätzlich nicht überprüfen, solange die Behörde keine sachfremden Erwägungen berücksichtigt und vom richtigen Sachverhalt ausgeht. Daraus kann aber nicht folgen, dass die Behörde jede Entscheidung treffen kann. Vielmehr ist Zweck des Beurteilungsspielraums, dass die Behörde am besten geeignet ist, von den vertretbaren Beurteilungen die richtige auszuwählen. Wenn die Behörde aber eine völlig unvertretbare Beurteilung wählt, dann bewegt sich Behörde nicht mehr innerhalb des ihr zugestandenen Rahmens. Eine unvertretbare Beurteilung liegt etwa vor, wenn gegen allgemeingültige Bewertungsgrundsätze verstoßen wird oder ein Verstoß gegen sonstiges Recht (insb. Grundrechte) vorliegt. Entsprechend ist ein Gericht auch in dieser Konstellation dazu befugt, die Entscheidung der Behörde zu kontrollieren.

Ähnlichkeit zur gerichtlichen Überprüfung von Ermessensentscheidungen

Insgesamt ist die Überprüfung des Beurteilungsspielraums der Ermessensprüfung sehr ähnlich. Indem der Behörde ein gewisser Freiraum gewährt wird und in der Klausur nur überprüft werden muss, ob die Behörde den Freiraum überschreitet. Bei der Prüfung des Beurteilungsspielraums handelt es sich entsprechend um ein herausforderndes Problem, das sicher beherrscht werden sollte.

Häufig gestellte Fragen