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Verhältnismäßigkeitsprüfung

Verhältnismäßigkeitsprüfung in Jura-Klausuren

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Tobias Escherich
Aktualisiert am 
1.1.2024
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Das Wichtigste in Kürze:

  • Die Verhältnismäßigkeitsprüfung stellt in vielen Jura-Klausuren – insbesondere im öffentlichen Recht – den Klausurschwerpunkt dar.
  • Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung geht es primär darum, eine vertretbare Lösung zu entwickeln. Deswegen ist es sehr wichtig, die Verhältnismäßigkeitsprüfung korrekt darzustellen, da das Ergebnis zweitrangig ist und primär die Art und Weise der Prüfung bewertet wird.
  • Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist eine strukturierte Prüfung essentiell, nur dann kann der Prüfer die Gedanken nachvollziehen und viele Punkte vergeben. Wenn man die Struktur der Verhältnismäßigkeitsprüfung verstanden hat, kann man gute Noten erzielen, ohne viel Lernen zu müssen.

Was ist der Zweck der Verhältnismäßigkeitsprüfung?

Wenn zwei Rechtspositionen miteinander kollidieren, muss einer Position Vorrang gewährt werden. Welchem Interesse Vorrang gewährt werden soll, kann keine willkürliche Entscheidung sein. Vielmehr ist es erforderlich, im Einzelfall sorgfältig herauszuarbeiten und zu begründen, weshalb ein Interesse überwiegen soll. Das ist der Zweck der Verhältnismäßigkeitsprüfung.  

Schema der Verhältnismäßigkeitsprüfung

Die Verhältnismäßigkeitsprüfung wird in vier Schritten geprüft:

  1. Schritt: Prüfung des legitimen Zwecks
  2. Schritt: Prüfung der Geeignetheit
  3. Schritt: Prüfung der Erforderlichkeit
  4. Schritt: Prüfung der Angemessenheit

Definition des legitimen Zwecks

Der legitime Zweck wird so definiert, dass jedes öffentliche Interesse einen legitimen Zweck darstellt. Die Prüfung des legitimen Zwecks ist der Einstieg in die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Prüfung des legitimen Zwecks stellt nur selten einen Schwerpunkt dar, weil das öffentliche Interesse sehr weit gefasst ist und nur in sehr seltenen Fällen nicht vorliegt.

Es gibt allerdings einige Fälle, in denen nur bestimmte Zwecke verfolgt werden dürfen. Es ist sehr wichtig, sich diese Fälle beim Lernen zu merken, denn hier lauern insbesondere in Grundrechtsklausuren immer wieder Probleme.

Beispiele, in denen nur bestimmte Zwecke verfolgt werden dürfen:

  • Vorbehaltlose Grundrechte: Nur der Schutz anderer Verfassungsgüter
  • Grundrechtliche Eingriffsvorbehalte (z.B. Art. 11 Abs. 2 GG)
  • Polizeirechtliche Generalklausel (z.B. § 3 Abs. 1HamSOG): Polizei darf nur zur Gefahrenabwehr handeln

Definition der Geeignetheit

Eine Maßnahme ist geeignet, wenn die Maßnahme den legitimen Zweck zumindest fördert. Dabei kommt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu, sodass das eingesetzte Mittel nur dann zu beanstanden ist, wenn es objektiv untauglich oder schlechthin ungeeignet wäre.

Durch die bloße Filterung völlig ungeeigneter Maßnahmen ist auch diese Definition wiederum sehr weit. Daraus folgt, dass die Prüfung der Geeignetheit häufig ebenfalls kein Problem darstellt und deshalb typischerweise in wenigen Sätzen geprüft wird.

Definition der Erforderlichkeit

Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn es kein gleich geeignetes Mittel gibt, was weniger intensiv in die Rechte des Betroffenen eingreift.

Häufig wird hier fälschlicherweise geprüft, ob es ein Mittel gibt, welches besser geeignet ist. Darauf kommt es allerdings nicht an. Vielmehr ist die Steigerung der Effektivität nicht entscheidend, sondern nur die Frage, ob es eine Maßnahme gibt, die weniger stark in die Rechte des Betroffenen eingreift und gleichzeitig gleich geeignet ist.

Bei der Prüfung der Erforderlichkeit handelt es sich um eine relative Prüfung, indem das geprüfte Mittel mit einem anderen Mittel verglichen wird. Im Sachverhalt einer Klausur wird allerdings häufig kein alternatives Mittel genannt, mit dem das zu prüfende Mittel verglichen werden kann. In einer solchen Situation ist es empfehlenswert, sich ein alternatives Mittel auszudenken und kurz zu prüfen, weshalb dieses Mittel weniger geeignet ist. Ein solches Vorgehen wird häufig honoriert, da man die Erforderlichkeit ernsthaft geprüft hat. Man sollte sich jedoch kein effektiveres Mittel ausdenken, es sei denn, das effektivere Mittel ist im Sachverhalt angelegt. Denn damit würde man erstens ein Problem bearbeiten, welches nicht in der Klausur angelegt ist, und damit auch keine Punkte bringt, und zweitens würde man sich die Prüfung der Angemessenheit abschneiden, wodurch man sehr viele Punkte verlieren würde.

Definition der Angemessenheit

Eine Maßnahme ist angemessen, wenn der verfolgte Zweck und der damit verbundene Nutzen die Beeinträchtigungen und nachteile rechtfertigt. Es handelt sich also um eine Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen der Maßnahme.

Wenn mehrere Rechtsgüter miteinander kollidieren, dann ist es das Ziel der Abwägung zu ermitteln, welches Rechtsgut überwiegt. Möchte man eine gelungene Abwägung schreiben, bietet es sich an, dass folgende Prüfungsschema zu nutzen. Dies hat den Vorteil, dass es dabei hilft, strukturiert vorzugehen. Auch „erwarten“ die meisten Korrektoren das Prüfungsschema, da es sich für die Prüfung der Abwägung etabliert hat. Außerdem empfehlen wir Euch auch, diesen Maßstab in der Prüfung zu nutzen, denn ein großer Unterschied zwischen gut und schlecht bewerteten Klausuren ist häufig, dass gute Klausuren ansprechend strukturiert sind.

Abwägung: Maßstab

Zu Beginn der Abwägung sollte herausgearbeitet werden, nach welchem Maßstab die Abwägung erfolgt. Hier gilt stets die „Je-desto-Formel“: „Je höherrangig das beeinträchtigte Interesse und je intensiver der Eingriff, desto gewichtiger muss das zu schützende Interesse und desto höher auch der Nutzen für dieses Interesse sein.“

Abwägung: Konkretisierung des Maßstabs

Die „Je-desto-Formel“ alleine ist allerdings sehr allgemein und berücksichtigt nicht die Umstände des Einzelfalls. Um die allgemeine „Je-desto-Formel“ mit dem Einzelfall zu verbinden, ist es wichtig in einem zweiten Schritt den Maßstab zu konkretisieren, indem man herausarbeitet, welche Interessen in dem konkreten Einzelfall zu berücksichtigen sind. Da jeder Fall unterschiedlich ist, kann man hierfür nicht einfach eine Liste an Interessen auswendig lernen. Vielmehr muss man lernen, wie man die Interessen, die in diesem Fall von Bedeutung sind, aus dem Sachverhalt herausarbeiten kann. Ein geeignetes Hilfsmittel ist das „hochabstrahieren“. „Hochabstrahieren“ bedeutet, dass man abstrakte Kategorien für die konkreten Sachverhaltsinformationen findet.      

Beispiel: Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei § 34 StGB

  • Sachverhaltsinformation: Es handelt sich um eine typische Gefahr: Dann sollte man in der Konkretisierung des Maßstabes erwähnen, dass die Vorhersehbarkeit der Gefahr zu berücksichtigen ist. Denn wenn eine Gefahr vorhersehbar ist.
  • Sachverhaltsinformation: Die Gefahr wurde von einer Person verursacht: Dann kann man in der Konkretisierung des Maßstabes auf die Verantwortlichkeit einzugehen.
  • Sachverhaltsinformation: Eine Person hat eine riskante Aufgabe übernommen (z.B. als Feuerwehrmann): Dann kann man in der Konkretisierung des Maßstabes auf die Duldungspflichten einzugehen, die mit der Übernahme des Risikos verbunden sind.

Abwägung: Abstrakte Gewichtung

Wenn man zu dem Punkt gekommen ist, dass man die gegenläufigen Interessen miteinander abwägt, dann besteht eine solche Abwägung aus zwei Stufen. Zuerst muss man sich anschauen, welches Gewicht die Interessen abstrakt, also losgelöst vom Einzelfall, haben.

Denn wenn etwa bei § 34 StGB auf der einen Seite das Rechtsgut Leben steht und auf der anderen Seite das Rechtsgut Eigentum, dann ergibt sich aus der abstrakten Gewichtung, dass das Rechtsgut Leben ein deutlich höheres Gewicht hat.

Allerdings ergibt sich aus der abstrakten Gewichtung normalerweise kein einzelfallgerechtes Ergebnis. Somit kann sich durch die abstrakte Gewichtung lediglich das Begründungsgewicht für die zweite Stufe – die konkrete Gewichtung – verschieben. Wenn also abstrakt ein Interesse ein höheres Gewicht hat, dann kann das andere Interesse in der Gesamtabwägung immer noch überwiegen, allerdings ist dafür in der konkreten Gewichtung ein deutliches Überwiegen erforderlich.

Um das abstrakte Gewicht von Rechtsgütern zu ermitteln, ist es sehr hilfreich, sich anzuschauen, welche Grundrechte hinter den einzelnen Interessen stehen und welches Gewicht diese Grundrechte haben. Aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde, die aus Art. 1 Abs. 1 GG folgt, ergibt sich, dass diese auf erster Stufe steht und immer überwiegt. Auf der zweiten Stufe steht der Schutz des menschlichen Lebens, da das menschliche Leben selbst die Grundlage aller weiteren Grundrechte ist. Auf der dritten Stufe folgen alle weiteren Grundrechte außer der allgemeinen Handlungsfreiheit, welche auf der vierten Stufe steht.

Bezüglich des Umfangs der abstrakten Gewichtung gilt, dass die abstrakte Gewichtung normalerweise deutlich weniger Umfang in Anspruch nimmt als die konkrete Gewichtung. 

Abwägung: Konkrete Gewichtung

Das Herzstück einer Abwägung ist die konkrete Gewichtung, welche dementsprechend auch am meisten Punkte bringt. Hier werden die Interessen, welche in dem konkreten Fall von Bedeutung sind, miteinander abgewogen.

Eine Abwägung gelingt dann besonders gut, wenn man nicht nur das Interesse selbst nennt, sondern darüber hinaus herausarbeitet, welche Bedeutung das Interesse in dem konkreten Fall hat. Um die Bedeutung des Interesses im Einzelfall zu ermitteln, muss man – wie immer ;-) – die Umstände des Einzelfalls berücksichtigen.  

Typische Kriterien, um die Bedeutung im Einzelfall zu ermitteln:

  • Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts einer Gefahr, eines Risikos bzw. eines Erfolges
  • Intensität der Beeinträchtigung / des Nutzens
  • Dauer der Beeinträchtigung / des Nutzens
  • Grad der Schutzbedürftigkeit
  • Verantwortlichkeit
  • Jedoch: Die Liste ist nicht abschließend, es gibt sehr viele Kriterien, allerdings muss man diese nicht auswendig lernen, sondern nur die SV-Informationen verwerten können!

Wenn man die Bedeutung der Interessen ermittelt hat, muss man in einem letzten Schritt abwägen, welches der Interessen das höhere Gewicht hat. Die besondere Herausforderung dieser Aufgabe ergibt sich daraus, dass es typischerweise kein „richtiges“ Ergebnis gibt. Dies ist allerdings auch eine Chance, da es lediglich darauf ankommt, zu einem wohlbegründeten, vertretbaren Ergebnis zu kommen.

Beispiel: A „stiehlt“ von seinem Nachbarn B einen Feuerlöscher, um damit ein Feuer in seiner Wohnung zu löschen, dass die Wohnung und das Leben des A bedroht hat. Hier stehen steht auf der einen Seite das Eigentumsrecht des B, indem das Löschpulver dauerhaft und der Besitz am Feuerlöscher temporär entzogen wurden. Auf der anderen Seite steht eine konkrete Gefahr für das Leben und die Wohnung – also das Eigentum – des A. Nachdem man das Gewicht der Interessen herausgearbeitet hat, könnte man in der Abwägung darauf verweisen, dass die sehr hohe Bedeutung des Rechtsguts Leben und der hohe Wert einer Wohnung dazu führen, dass der Eingriff in das Eigentumsrecht des B angemessen ist.  

Tipps für die Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Klausur

Wenn in einer Klausur die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme geprüft werden muss, handelt es sich so gut wie immer um einen Klausurschwerpunkt. Um diesen punkteträchtig zu bearbeiten, sind folgende Tipps hilfreich: 

  • Strukturierte Prüfung: Eine Abwägung bzw. eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ist meistens eine sehr ausführliche Prüfung, die mehrere Seiten in Anspruch nimmt. Damit der Korrektor den Ausführungen gut folgen kann, ist es wichtig, strukturiert vorzugehen. Eine strukturierte Prüfung gelingt zum einen dadurch, dass man die Abwägung in thematische Abschnitte unterteilt. Dadurch zeigt Ihr, dass Ihr die Informationen des Sachverhalts verknüpfen könnt. Der genaue Inhalt der Abschnitte hängt vom konkreten Sachverhalt ab. Auch gibt es keine „richtigen“ Abschnitte, vielmehr ist es völlig ausreichend, wenn man die Informationen des Sachverhalts so abstrahiert, dass sich daraus mehrere sinnvolle Abschnitte ergeben.
  • Absätze setzen: Um die Struktur der Prüfung zu verbessern, ist das Einfügen von Absätzen sehr wichtig. Auch wenn dieser Tipp sehr trivial wirkt, ist die Bedeutung nicht zu unterschätzen. Für Korrektoren ist ein Text mit Absätzen deutlich leichter und schneller zu verstehen, sodass ihr den Korrektor umso eher überzeugt, je leichter Eure Ausführungen zu verstehen sind. Absätze fügt Ihr am besten dort ein, wo ein Gedankengang zu Ende ist und ein neuer Gedanke beginnt.
  • Auswertung des Sachverhaltes: Außerdem ist es von sehr hoher Bedeutung, den Sachverhalt in der Klausur umfassend auszuwerten. Denn nur wenn alle Aspekte des Einzelfalls berücksichtigt werden, kann man davon sprechen, dass bei der Abwägungsentscheidung alle Interessenberücksichtigt wurden.
Tipp: Damit der Sachverhalt in der Klausur umfassend ausgewertet wird, bietet es sich etwa an, nach dem Erstellen der Lösungsskizze den Sachverhalt noch einmal anzuschauen und bezüglich jeder Information zu überprüfen, ob man diese in der Klausur verwendet hat.

Beispiel Verhältnismäßigkeitsprüfung

Die folgende Prüfung stammt aus einer Original-Examensklausur aus Hamburg, die mit 14 Punkten bewertet wurde:

Zusammenfassung des Sachverhalts (Mehr geht aus Gründen des Urheberrechts nicht…): Veranstaltung eines Jahrmarkts („Hamburger Frühlingsdom“), bei der die Behörde die Anzahl an Ausstellerplätzen für Autoscooteranbieter auf zwei begrenzt hat und einen Aussteller (den N) nicht zugelassen hat, obwohl dieser als einziger Bewerber Rollstuhlfahrern das Autoscooterfahren ermöglichen würde. Allerdings hat der N bisher nicht als Aussteller am Frühlingsdom teilgenommen, sondern nur am Winterdom, sodass die Behörde meint der N sei weniger vertrauenswürdig.

Klausurbearbeitung: 

[…]

Die Ablehnung des N könnte gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen.  

Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt, geeignet ist, den Zweck zu erreichen, die Erforderlichkeit besteht und eine angemessene Maßnahme vorliegt.

a) Legitimer Zweck

Es müsste ein legitimer Zweck vorliegen. Ein legitimer Zweck liegt vor, wenn der Zweck ein öffentliches Interesse verfolgt. Die Veranstaltung kann nur stattfinden, wenn die Anzahl der Teilnehmer begrenzt ist. Wenn sich also mehr Aussteller für die Teilnahme bewerben, als es Plätze gibt, dann verfolgt die Absage den Zweck die Veranstaltung zu ermöglichen, sodass ein legitimer Zweck verfolgt wird. Somit liegt ein legitimer Zweck vor.

b) Geeignetheit

Durch die Begrenzung der Teilnehmer kann die Veranstaltung stattfinden, sodass der legitime Zweck gefördert wird und die Geeignetheit vorliegt. 

c) Erforderlichkeit

Auch müsste das Mittel erforderlich sein. Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn kein gleich geeignetes, milderes Mittel vorliegt. Als milderes Mittel kommt hier die Ablehnung eines anderen Veranstalters in Betracht. Ein Mittel ist milder, wenn es die Rechtsgüter des Beteiligten weniger beeinträchtigt. Eine geringere Beeinträchtigung liegt allerdings nicht vor, wenn die Beeinträchtigung Dritten übertragen wird, denn dann wird die Beeinträchtigung schlicht auf Dritte übertragen, ohne dass die Beeinträchtigung der Rechtsgüter insgesamt abnimmt. Somit ist die Ablehnung auch erforderlich.

d) Angemessenheit

Auch müsste die Ablehnung angemessen sein.

Angemessen ist eine Maßnahme, wenn die verfolgten Interessen nicht außer Verhältnis zu den beeinträchtigten Rechtsgütern stehen.

Hierbei gilt grundsätzlich, dass umso gewichtigere Gründe für die Rechtfertigung der Maßnahme vorliegen müssen, je intensiver in die beeinträchtigten Rechtsgüter eingegriffen wird.

In einer solchen Abwägung sind insbesondere die Interessen der Kunden, für die der Jahrmarkt primär stattfindet, die Interessen der Stadt Hamburg, welche als Veranstalterin zum einen ein Interesse an einer ausgewogenen, für die Kundeninteressanten Veranstaltung hat, als auch an einem ruhigen und konfliktlosen Ablauf der Veranstaltung interessiert ist, zu berücksichtigen. Des Weiteren sind auch die Interessen der Darsteller und Interessenten zu berücksichtigen, wobei insbesondere Interessenten ein Interesse an einem gerechten Zugang zu den Darstellerplätzen haben, außerdem sind auch grundrechtliche Belange zu berücksichtigen. 

(1) Interessen der Kunden

Ein Jahrmarkt lebt davon, dass eine große Anzahl von Menschen Angebote und Dienstleistungen in Anspruch nehmen können, welche von unterschiedlicher Natur sind, sodass ein breites Spektrum von Interessen abgedeckt wird. Somit spricht aus Sicht der Kunden in großes Interesse dafür, dass viele verschiedene Produkte und Dienstleistungen angeboten werden. Folglich sind Kunden zum einen daran interessiert, dass es Grenzen bezüglich der Anzahl gleicher Darstellerarten gibt. So erreicht ein Jahrmarkt für die Kunden seinen besonderen Wert, indem jeder etwas Passendes findet und man viele verschiedene Sachen erleben kann. Somit besteht aus Kundensicht ein Interesse an der Begrenzung der Darstellerplätze für Autoscooter.

Das breite Publikum, welches Jahrmärkte anzieht, führt allerdings auch dazu, dass eine so große Anzahl von Menschen angezogen wird, dass auch gesellschaftliche Minderheiten in beträchtlicher Personenzahl angezogen werden. Etwa Rollstuhlfahrer werden von einer großen Veranstaltung wie dem Hamburger Dom ebenfalls angezogen. Auch diese Personengruppen haben ein Interesse daran, aktiv die Dienstleistungen und Angebote in Anspruch nehmen zu können. Folglich haben die Kunden ein Interesse daran, dass auch Menschen mit Behinderung am Dom teilnehmen können, sodass auch ihre Belange berücksichtigt werden. Dies wird insbesondere dadurch bestätigt, dass bei N täglich 30 bis 40 Rollstuhlfahrer Autoscooter fahren. Bei einem einmonatigen Dom bedeutet dies, dass deutlich über 1.000 Rollstuhlfahrer auf dem Dom Autoscooter fahren werden. Die Interessen dieser Personengruppe gilt es zu berücksichtigen. 

Insgesamt haben die Kunden also zwei Hauptinteressen, zum einen, dass es ein vielfältiges Angebot gibt, zum anderen, dass alle Bevölkerungsgruppen, auch Minderheiten, ein attraktives Angebot vorfinden. Dies spricht aus Sicht der Kunden für die Zulassung des N.

(2) Interessen des Veranstalters

Des Weiteren sind in der Abwägung die Interessen des Veranstalters, also der Stadt Hamburg, zu berücksichtigen.

Der Veranstalter hat bei einem Jahrmarkt das Interesse, ein attraktives Angebot an die Dombesucher zu machen. Dies gelingt insbesondere mit einem bunten, vielfältigen Angebot, dies sorgt für Abwechslung und spricht damit eine größtmögliche Kundengruppe an.

Aus Veranstaltersicht spricht somit viel dafür, dass es zulässig ist, Restriktionen bezüglich einzelner Darstellerarten zu machen. Denn nur so ist es möglich, einreichhaltiges Angebot anzubieten.

Außerdem ist der Veranstalter in besonderem Maße an einem sicheren, reibungslosen Ablauf der Veranstaltung interessiert. Veranstaltungen wie der Dom, welche eine Vielzahl von Menschen anziehen, sind für den Veranstalter schwer zu kontrollieren, vielmehr muss der Veranstalter auch darauf vertrauen können, dass sich die Darsteller rechtmäßig verhalten. Entsprechend ist es nicht zu beanstanden, wenn der Veranstalter in seiner Auswahlentscheidung berücksichtigt, wenn sich Darsteller bereits bewährt haben. Denn dies vereinfacht es dem Veranstalter auch bei zukünftigen Veranstaltungen einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten.

Fraglich ist hier allerdings, ob dies bei N gegeben ist. Die Behörde behauptet, dass dies bei N nicht klar sei, da dieser nur an dem Winterdom, nicht aber auf dem Frühlingsdom teilgenommen hat. Da der Winterdom einem anderen Auswahlverfahren unterliege, sei das Verhalten des N dort nicht übertragbar. Dies widerspricht allerdings dem Merkmal der Zuverlässigkeit. Denn – wie dargestellt – geht es darum, ob die Gesetze und Vorgaben eingehalten werden, dafür kann es keinen Unterschied machen, ob dies im Frühling oder Winter erfolgt.

Somit spricht aus Sicht des Veranstalters ein berechtigtes Interesse an einer Beschränkung der Darstellerarten in einzelnen Kategorien. Innerhalb dieser Kategorien muss allerdings rechtmäßig ausgewählt werden. Der Verweis auf die fehlende Eignung des N, indem er sich noch nicht als zuverlässig bewiesen hat, trägt somit nicht, da er seine Zuverlässigkeit auf dem Winterdom unter Beweisgestellt hat.

(3) Interessen der Darsteller

Die Darsteller haben alle das gleiche Interesse, ihren Beruf, Art. 12 Abs. 1 GG, ausüben zu können, sodass sich hieraus keine unterschiedlichen Gewichtungen ergeben können.

(4) Grundrechtliche Belange 

Außerdem sind in der Abwägung die grundrechtlichen Wertungen, welche auch nach Abs. 4 Nr. 10 der Richtlinie [Anmerkung: Richtlinie war im Sachverhalt abgedruckt] berücksichtigt werden können. Aus Art. 3 III 1 GG folgt nicht nur das Benachteiligungsverbot von Menschen mit Behinderung, sondern es folgt sogar ein Privilegierungsgebot, sodass die Interessen von behinderten Menschen in besonderem Maße berücksichtigt werden sollen.

Dies ist in Hamburg im HmbGGbM [Hamburgische Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen] kodifiziert, welches ebenfalls Diskriminierungen von Behinderten verbietet, und Ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe stärkt. In einer Konstellation, wie der vorliegenden, in der mehrere Aussteller um ein knappes Gut konkurrieren, welches der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird, ist somit zu berücksichtigen, ob dadurch behinderte Menschen benachteiligt werden. Durch die Ablehnung von N sind Behinderte daran gehindert, Autoscooter fahren zu können. Gleichzeitig gibt es keinen Differenzierungsgrund, welcher das Angebot des N sonst weniger attraktiv macht.

Somit ist aus dem GG und HmbGGbM folgend bei gleich attraktiven Angeboten das Angebot, welches behinderte Menschen besser integriert, vorzuziehen. 

(5) Konkrete Abwägung

Unter Berücksichtigung dieser Interessenlage sind die Entscheidungen der Stadt Hamburg zu bewerten.

Die Entscheidung, Kontingente für bestimmte Gruppen von Ausstellern festzulegen, entspricht den Interessen der Kunden und des Veranstalters, ohne dass andere Interessen dem entgegenstehen, sodass die Begrenzung zulässig ist.

Außerdem müsste die konkrete Auswahlentscheidung, welche zu Lasten von N ausgefallen ist, rechtmäßig sein. Dafür spricht erstens die bestehende Einschätzungsprärogative der Behörde. Insbesondere, wenn die Behörde einen Anforderungskatalog [im Sachverhalt abgedruckt] aufstellt, welche viele berechtigte Interessen normiert, hat die Behörde beim Aufstellen des Katalogseinen weiten Spielraum, solange die Anforderungen des Katalogs bei der Auswahlentscheidung eingehalten werden.

Eine konsequente Umsetzung der Anforderungen des Katalogs ist hier allerdings nicht erfolgt. Zum einen ist der Verweis auf die fehlende Vertrauenswürdigkeit des N verfehlt, welcher sich auf vielen Winterdomen als zuverlässig erwiesen hat. Gleichzeitig ist der sehr gewichtige Schutz von Minderheiten und deren Recht auf gesellschaftliche Teilhabe aus Art. 3 Abs. 3 GG bzw. §§ 1, 6 HmbGGbM nicht ausreichend berücksichtigt worden. Dieser hätte es gefordert, dass die Interessen der behinderten Menschen auf Gleichstellung und gesellschaftliche Teilhabe stärker gewichtet werden, sodass sich für N entschieden werden müsste. Dafür spricht auch, dass der Verweis auf das Vertrauen und die Bewährung der anderen Wettbewerber kein zu hohes Gewicht haben darf, den sonst würden neue Wettbewerber faktisch ausgeschlossen und in ihrer Berufsfreiheit, Art. 12 Abs.1 GG, stark beeinträchtigt.

(6) Ergebnis 

Somit ist die Ablehnung des N rechtswidrig, indem sie unangemessen ist und somit gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstößt.

Wo kommt die Verhältnismäßigkeitsprüfung vor?

Die Abwägungsprüfung bzw. Prüfung der Verhältnismäßigkeit wird häufig alleine mit dem öffentlichen Recht verbunden, allerdings taucht sie in allen Rechtsgebieten auf.

Orte, wo die Abwägungs- bzw. Verhältnismäßigkeitsprüfung auftaucht:

  • Öffentliches Recht: Verfassungsrecht & Verwaltungsrecht
  • Zivilrecht: z.B. bei § 275 II BGB
  • Strafrecht: z.B. bei § 34 StGB 

Deshalb ist es auch von herausragender Bedeutung, die Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung gut zu beherrschen. Denn zum einen handelt es sich um eine Fähigkeit, die nur einmal erlernt werden muss, und dann immer wieder angewendet werden kann. Außerdem handelt es sich typischerweise um Klausurschwerpunkte, sodass man mit einer gelungenen Abwägungs- bzw. Verhältnismäßigkeitsprüfung sehr viele Punkte sammeln kann, ohne dass man dafür viel lernen muss.

Häufig gestellte Fragen

Was ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung?
Bei staatlichen Handlungen dürfen die Beeinträchtigungen nicht außer Verhältnis zu den Beeinträchtigungen stehen. Mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird überprüft, ob die Beeinträchtigungen durch staatliches Handeln im Verhältnis zu den Beeinträchtigungen stehen.
Wann muss die Verhältnismäßigkeit geprüft werden?
Die Verhältnismäßigkeitsprüfung muss häufig im öffentlichen Recht und im Strafprozessrecht geprüft werden. Die Verhältnismäßigkeit ist stets bei staatlichen Maßnahmen zu prüfen. In Klausuren ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung am häufigsten auf Rechtsfolgenseite im öffentlichen Recht zu prüfen.
Wie prüft man die Angemessenheit?
Bei der Angemessenheit wird geprüft, ob die durch eine Maßnahme drohenden Nachteile durch die durch die Maßnahme verfolgten Zwecke kompensiert werden können. Es wird sich dabei die konkrete Maßnahme angeschaut und es werden die Vor- und Nachteile miteinander abgewogen.
Wo prüft man die Angemessenheit?
Die Angemessenheit einer Maßnahme wird am Ende der Verhältnismäßigkeitsprüfung überprüft.
Wann ist eine Maßnahme angemessen?
Eine Maßnahme ist angemessen, wenn die durch die Maßnahme drohenden Beeinträchtigungen nicht außer Verhältnis zu den mit der Maßnahme verfolgten Zwecken stehen.