Jura-Studium
Teleologische Reduktion

Prüfung der teleologischen Reduktion

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Tobias Escherich
Aktualisiert am 
4.12.2023
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Das Wichtigste in Kürze:

  • Eine teleologische Reduktion ist die Nichtanwendung einer Norm, obwohl der Wortlaut den Fall erfasst, weil der Zweck der Norm nicht einschlägig ist und der Wortlaut versehentlich zu weit formuliert wurde.
  • Die Prüfung der teleologischen Reduktion erfolgt in der Klausur in drei Schritten, zuerst muss geprüft werden, dass der Sachverhalt vom Wortlaut der Norm erfasst wird, anschließend dass der Zweck der Norm nicht einschlägig ist. Im letzten Schritt ist dann zu prüfen, ob der Wortlaut planwidrig zu weit formuliert wurde.
  • Im Strafrecht gibt es aufgrund von Art. 103 Abs. 2 GG keine teleologische Reduktion zu Lasten des Täters.

Was ist eine teleologische Reduktion?

Bei der teleologischen Reduktion wird eine Norm, die dem Wortlaut nach auf einen Fall anwendbar wäre, nicht angewendet, weil der Wortlaut versehentlich zu weit gefasst wurde und sich die Interessenlage des konkreten Falls gegenüber anderen vom Wortlaut erfassten Fällen maßgeblich unterscheidet, sodass der Zweck der Norm nicht mehr einschlägig ist.

Grafik, wann eine teleologische Reduktion vorliegt

Voraussetzungen der teleologischen Reduktion

Damit eine grundsätzlich einschlägige Norm nicht angewendet wird, müssen besondere Voraussetzungen vorliegen.  

Eine teleologische Reduktion hat zwei Voraussetzungen.  

  1. Der Wortlaut der Norm ist planwidrig zu weit
  2. Unterschiedliche Interessenlage zw. dem vorliegenden Fall und den sonst erfassen Fällen

1. Planwidrig zu weiter Wortlaut

Das Recht darf nur dort von der Rechtsprechung fortgebildet werden, wo der Gesetzgeber nicht tätig geworden ist. Hat der Gesetzgeber die Situation bewusst geregelt, muss die Rechtsprechung diese Entscheidung hingegen akzeptieren. Die teleologische Reduktion ist also nur zulässig, wenn der Gesetzgeber den Wortlaut, der den Fall grundsätzlich erfasst, „planwidrig“, also „versehentlich“, zu weit gefasst hat.

2. Unterschiedliche Interessenlage

Die Interessenlage im konkreten Fall muss sich in den entscheidenden Punkten von den sonst von der Norm erfassten Konstellationen unterscheiden. Denn nur wenn die beiden Situationen wertungsmäßig unterschiedlich sind, ist sichergestellt, dass der Gesetzgeber mit der Norm noch keine Wertung für den konkreten Fall getroffen hat. Einfach gesagt darf der Zweck, welcher der Norm zu Grunde liegt, in der vorliegenden Situation nicht einschlägig sein.

Wie prüft man eine teleologische Reduktion in der Klausur?

Wenn man in der Klausur eine teleologische Reduktion prüft, muss man grundsätzlich immer auf die beiden Voraussetzungen eingehen. Hierbei gilt es allerdings einige Besonderheiten zu beachten.  

Die beiden kumulativ zu prüfenden Voraussetzungen werden klassischerweise unabhängig voneinander geprüft. Schwierig ist die Prüfung des planwidrig zu weiten Wortlauts. Klausurbearbeiter haben keinen Zugriff auf die Gesetzgebungsmaterialien. Wenn jedoch der Zweck der Norm die Situation nicht erfasst, ist dies ein starkes Indiz dafür, dass der Gesetzgeber den Wortlaut der Norm versehentlich zu weit formuliert hat. Somit können Klausurbearbeiter nur schlussfolgern, dass der Wortlaut zu weit formuliert wurde. Deswegen ist es sinnvoll, in einer Klausur zuerst zu prüfen, ob die Situation noch vom Zweck der Norm erfasst ist. In einem zweiten Schritt sollte dann geprüft werden, dass der Wortlaut planwidrig zu weit formuliert ist. Mit diesem Vorgehen stellt Ihr sicher, dass der Korrektor Euch nicht vorwerfen kann, ihr würdet das Vorliegen eines planwidrig zu weiten Wortlauts nur postulieren.  

Prüfungsschema für eine teleologische Reduktion in einer Klausur

Um diese Argumentation optimal einbauen, bietet sich in der Klausur folgendes Prüfungsschema an:

  1. Sachverhalt vom Wortlaut erfasst
  2. Unterschiedliche Interessenlage
  3. Planwidrig zu weiter Wortlaut

Wie prüft man, ob der Sachverhalt vom Wortlaut erfasst wird?

Diese Prüfung geht sehr schnell. Im ersten Schritt müsst Ihr durch Auslegung ermitteln, dass der Fall grundsätzlich von der Norm erfasst ist.  

Wie prüft man die unterschiedliche Interessenlage?

Anschließend muss herausgearbeitet werden, dass sich die Interessenlage im konkreten Fall in entscheidenden Aspekten von der Interessenlage von anderen Fällen, die vom Wortlaut erfasst werden, maßgeblich unterscheidet.

Die Prüfung der unterschiedlichen Interessenlage erfolgt in zwei Schritten. Im ersten Schritt muss herausgearbeitet werden, welchen Zweck die Vorschrift in den nach der Wertung des Gesetzes entscheidenden Punkten überhaupt verfolgt. Anschließend wird in einem zweiten Schritt geschaut, ob dieser Zweck in der konkreten Situation nicht betroffen ist und die Norm in dieser Situation deshalb nicht angewendet werden sollte. Dabei sollte man herausarbeiten, ob die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Konstellationen wertungsmäßig relevante Aspekte oder eher irrelevante Aspekte betreffen.

Was gilt es bei der Prüfung des planwidrig zu weiten Wortlauts zu beachten?

Abschließend prüft Ihr, ob der Wortlaut der Norm planwidrig zu weit ist. Es muss also dargelegt werden, dass dem Gesetzgeber ein Versehen unterlaufen ist. An dieser Stelle könnt ihr Eure Argumentation zur unterschiedlichen Interessenlage aufgreifen und diese als Indiz für die Planwidrigkeit anführen. Allerdings solltet ihr an dieser Stelle nicht stehenbleiben. Macht Euch zumindest kurz Gedanken, ob Euch andere z.B. systematische Argumente einfallen, die für oder gegen eine Planwidrigkeit des weiten Wortlauts sprechen.

Zentral: Voraussetzungen sauber herausarbeiten

In der Klausur ist es wichtig, sauber herauszuarbeiten, dass die oben genannten Voraussetzungen vorliegen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Prüfung, dass der Zweck der Vorschrift nicht einschlägig ist. Die Prüfung, dass der Wortlaut der Norm einschlägig ist, stellt hingegen üblicherweise keinen Schwerpunkt dar.

Was ist der Unterschied zwischen der teleologischen Reduktion und der Auslegung

Die Auslegung von Normen und die teleologische Reduktion stellen gewissermaßen zwei aufeinanderfolgende Stufen dar. Im ersten Schritt muss die Norm anhand der juristischen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Systematik, Zweck & Historie) ausgelegt werden. Erst wenn die Auslegung einer Norm ergibt, dass die Norm grundsätzlich anwendbar ist, kann auf eine richterliche Rechtsfortbildung im Wege einer teleologischen Reduktion zurückgegriffen werden.  

In der Klausur bedeutet dies, dass es in der Regel nur sinnvoll ist, eine teleologische Reduktion anzusprechen, wenn der Wortlaut den konkreten Fall eindeutig erfasst. Ist der Wortlaut hingegen unklar, dann sollte man das Problem eher im Rahmen der Auslegung aufbauen.

Teleologische Reduktion im Strafrecht

Wie bei der Analogie gilt es auch bei der teleologischen Reduktion im Strafrecht Art. 103 II GG zu beachten. Deshalb ist eine teleologische Reduktion einer täterbegünstigenden Vorschrift zu Lasten des Täters niemals zulässig. Zugunsten des Täters ist eine teleologische Reduktion hingegen grundsätzlich denkbar. Eine solche wird beispielsweise im Rahmen von § 306a StGB diskutiert.  

Was ist der Unterschied zwischen der teleologischen Reduktion und der Analogie?

Die teleologische Reduktion ist das Gegenteil einer Analogie. Bei der Analogie wird eine mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nicht einschlägige Rechtsnorm auf einen ähnlichen, versehentlich gesetzlich nicht geregelten Sachverhalt angewendet.

Warum ist eine teleologische Reduktion zulässig?

Aus der verfassungsrechtlich vorgegebenen Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 2 GG) und dem Gewaltenteilungsgrundsatz (Art. 20 Abs. 3 GG) ergibt sich, dass die Aufgabe der Rechtsprechung nur die Anwendung und nicht die Schöpfung des Rechts ist. Denn es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, also insb. des Bundestages, Bundesrates und der Parlamente, das Recht zu schaffen. Deshalb muss eine Norm grundsätzlich angewendet werden, wenn die Auslegung ergibt, dass der Fall von der Norm erfasst wird. Jedoch kann es geschehen, dass der Gesetzgeber „planwidrig“, also „versehentlich“, den Wortlaut einer Norm zu weit fasst. In diesem Fall kann und muss die Rechtsprechung den gesetzgeberischen Willen durch eine Rechtsfortbildung im Wege einer teleologischen Reduktion verwirklichen, um der Bindung an das Gesetz gerecht zu werden.

Ausformuliertes Beispiel aus einer Klausur

Das folgende Beispiel stammt aus einer Strafrechtsklausur im Examen (Bewertung: 15 Punkte) und zeigt, wie man eine teleologische Reduktion in einer Klausur prüfen kann.

  • Sachverhalt: A hat sich mit B gestritten und „rächt“ sich an diesem, indem er das Ferienhaus des B, in dem dieser regelmäßig schläft, anzündet. Das Ferienhaus hat nur ein Zimmer und ist sehr leicht zu überblicken. Vor dem Anzünden hat A kontrolliert, dass sich sicher keine Person in der Ferienwohnung aufhält. Hat sich A nach § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht?
  • Lösung:
    A könnte sich der schweren Brandstiftung nach § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er das Ferienhaus des B angezündet hat.

    [Prüfung des In-Brand-setzen; hier weggelassen]

    Das Ferienhaus müsste ein taugliches Tatobjekt nach § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB sein. Das Ferienhaus dient dem B regelmäßig als Wohnung, sodass grundsätzlich ein Gebäude vorliegt. Fraglich ist allerdings, ob hier ausnahmsweise die Anwendung des § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB ausscheidet, da der A zuvor überprüft hat, dass sich keine Person in der Ferienwohnung aufhält. Ein solcher Ausschluss der Gefährdung menschlichen Lebens kann eine teleologische Reduktion des § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB rechtfertigen.

    Eine teleologische Reduktion setzt voraus, dass eine Situation zwar vom Wortlaut einer Norm erfasst wird, aber nicht vom Zweck der Vorschrift erfasst wird. 

    Der Wortlaut des § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB ist erfüllt (s.o.). 

    Auch dürfte die Situation nicht vom Zweck des § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB gedeckt sein. Bei § 306a Abs. 1 StGB handelt es sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Zweck des § 306a Abs. 1 StGB ist somit, die hohen Gefahren, die von einem Brand für das menschliche Leben ausgehen, zu bestrafen, wenn eine Räumlichkeit betroffen ist, in der sich Menschen üblicherweise aufhalten. Mithin ist gerade keine konkrete Gefährdung für § 306a Abs. 1 S. 1 StGB erforderlich. Folglich entfällt der Zweck des § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht bereits, wenn in der konkreten Situation keine Gefährdung vorlag, sondern erst dann, wenn nicht einmal eine abstrakte Gefährdung des menschlichen Lebens vorlag. Dies setzt voraus, dass mit absoluter Sicherheit eine Gefährdung menschlichen Lebens verhindert wurde. Das Ferienhaus des B hat lediglich ein Zimmer und ist damit sehr leicht überschaubar. Aufgrund der geringen Größe und der sehr leichten Möglichkeit, das Haus zu überblicken besteht gerade nicht das Risiko, dass sich eine Person unentdeckt in dem Haus aufhält. Dazu hat A auch noch durch einen extra Rundgang kontrolliert, dass sich keine Person in dem Haus aufhält. Folglich hat A durch sein vorsichtiges Verhalten auch das abstrakte Risiko einer Gefährdung menschlichen Lebens ausgeschlossen.

    Damit liegt der Zweck des § 306a Abs. 1 StGB nicht vor, sodass der Anwendungsbereich der Norm in der vorliegenden Situation teleologisch zu reduzieren ist. 

Häufig gestellte Fragen

Was ist eine teleologische Reduktion?
Wenn eine dem Wortlaut nach anwendbare Norm nicht angewendet wird, weil der Wortlaut versehentlich zu weit gefasst wurde und sich die Interessenlage des konkreten Falls gegenüber anderen vom Wortlaut erfassten Fällen maßgeblich unterscheidet, spricht man von einer teleologischen Reduktion.
Was ist die teleologische Auslegung?
Die teleologische Auslegung bedeutet, dass die Norm anhand des Zweckes ausgelegt wird, die der Gesetzgeber mit der Norm verfolgt hat. Es wird versucht, das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel über die Auslegung der Norm zu erreichen.
Welche Auslegungsmethoden gibt es?
Es gibt die folgenden vier Auslegungsmethoden: Wortlaut, Systematik, Telos und Historie.